Fäkalsprache.

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Die Bahn betreibt dankenswerterweise eine ICE-Direktverbindung von Berlin nach Wuppertal. Mit mir im Abteil befindet sich die zehnte Klasse einer Kölner Gesamtschule auf Abschlussfahrt. Mit Blick auf ihre Außernwirkung liegen die Kernkompetenzen dieser jungen Leute offenbar im Bereich Schimpfwörter und Mobiltelefon-Musik.

Kurz vor Hannover kontrolliert der Schaffner die Fahrkarten. Dabei weist er einige Teilnehmer der Abschlussfahrt darauf hin, doch „bitte den Gebrauch der Fäkalsprache ein bisschen zu reduzieren“.

Kaum hat er das Abteil verlassen, stürzen andere Zehntklässler herbei:

„Was hat er gesagt? Was wollte der von euch?“

„Wir sollen die Fresse halten.“

Hemingway aus Uruguay.

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Ich habe einen neuen Freund. Er heißt Gonzalo, kommt aus Uruguay, und er wäre wohl der ideale Partner zum Pferde stehlen. Oder für eine Kneipenschlägerei. Oder den Weltuntergang.

Gonzalo nimmt sich jetzt meiner an.

Er sagt, ich solle Boxen lernen: „You’ve got long arms. That’s the most important thing. Nobody will be able to even touch you.“
(„Du hast lange Arme. Das ist das Wichtigste. Niemand wird dich auch nur berühren können.“)

Gonzalo steht neben mir in der WG-Küche eines Kommilitonen. Er hat Statur und Stimme von Bud Spencer. Und während die anderen Bier saufen, trinkt er seinen mitgebrachten Whisky.

„I’m not saying you have to hit anyone. But when you’re out to party, you meet a girl, you know… And then somebody is up for trouble. You have to know how to fight. So you don’t get down on the first hit.“
(„Ich sage nicht, dass du dich prügeln musst. Aber wenn du feiern bist und ein Mädchen triffst, du weißt schon… Und dann macht irgendjemand Ärger. Du musst kämpfen können. Damit du nicht direkt beim ersten Treffer zu Boden gehst.“)

Gonzalo holt einen Eisklumpen aus dem Gefrierfach und steckt ihn in sein Glas. Er ist zu groß. Also nimmt er die Whiskyflasche und schenkt so lange ein, bis der Brocken passt.

Ich frage ihn, was er bisher studiert hat.

„International relations and cooking.“
(„Internationale Beziehungen und Kochen.“)

„You know, when it comes to cooking, it’s all about true food. I don’t like this Indian food, these curry things. You never see what’s in there. Could be anything. But a really good tomato sauce… I mean, everybody can cook a good tomato sauce. But a really good tomato sauce. Cooking for hours. That is true food.“
(„Ach, weißt du, beim Kochen sollte nur eine Sache wirklich von Bedeutung sein: Wahres Essen. Ich mag die indische Küche nicht, dieses Curry-Zeug. Du weißt nie, was da drin ist. Könnte alles mögliche sein. Aber eine wirklich gute Tomatensoße… Ich meine, jeder kann eine gute Tomatensoße kochen. Aber eine wirklich gute Tomatensoße. Die für Stunden köchelt. Das ist wahres Essen.“)

Gonzalo reicht mir sein Glas. Er schwöre auf irischen Whisky, sagt er. Der sei nicht so scharf, eher leicht süßlich. Trinke sich wie Saft.

Ich probiere. Es trinkt sich nicht wie Saft. Ich huste. „Easy to drink, isn’t it?“, sagt Gonzalo.

Ich denke, Ernest Hemingway kommt aus Uruguay.

Stoff für 10 Euro.

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Nicht nur Bonn, auch Berlin hat Schienennetz im Nahverkehr. Der größte Unterschied besteht wohl darin, dass es in Berlin nicht nur an die gute, alte Zeit erinnert, sondern tatsächlich Fahrgäste transportiert.

So am Freitagabend auch mich und beeindruckend viele andere Menschen, darunter drei Halbstarke. Einer von ihnen fährt aus Platzmangel direkt in meiner Achselhöhle und rotzt an jeder Haltestelle aus der Tür.

Gemeinsam planen die drei, gleich für 10 Euro Stoff zu kaufen. Doch haben wohl auch in Berlin freitags um 22 Uhr alle Handarbeitsläden bereits geschlossen, jedenfalls nehmen sie sich vor, sich nur 15 Minuten zu bemühen, und dann weiterzufahren.

Bewundernd betrachte ich die drei so wohl-organisierten Jugendlichen, als sich mein Blick mit einem von ihnen trifft. Im Nu ist die unkomplizierte Zeitspanne vorbei, in der einer von uns beiden wieder hätte weggucken können.

Die Situation eskaliert.

Die Luft knistert und wir fahren gemeinsam zwei Stationen mit der Ringbahn, ohne wegzugucken, während ich versuche, etwas aufzusetzen, was ich für die Andeutung eines verächtlichen Lächelns halte. Er bemüht sich um eine Miene, die er sich als böse vorstellt.

Die anderen Fahrgäste verschwinden langsam aus meiner Wahrnehmung, Raum und Zeit verwischen.

Nach 6 Minuten guckt er weg.

Ich versuche, nicht laut loszujubeln oder ihn anderweitig mit eindeutigen Gesten auf meine Reife, Überlegenheit und Manneskraft hinzuweisen und zu verhöhnen.

Es gelingt bedingt.

Wehe, Hipster.

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Wir lernen uns kennen. Ich bin auf Kneipentour mit einigen meiner neuen Kommilitoninnen und -onen, geführt von William aus Uruguay, einem Studenten im zweiten Masterjahr.

William ist beeindruckend körperlich präsent, spricht abwechselnd Spanisch, Englisch und Deutsch, wobei ihm das Spanische offenbar als Richtschnur für seine Redegeschwindigkeit dient. Dazu überprüft er bei allen Gruppenmitgliedern regelmäßig, ob ihre Schulter wirklich fest genug mit dem Rest des Körpers verwachsen ist, indem er entweder kräftig daran rüttelt oder in verbindlich-herzlicher Manier darauf herumklatscht.

Zusätzlich gibt er uns zwei nachdrückliche Hinweise für unseren Studienverlauf mit:

„Chill the fuck out!“
(„Entspannt euch!“)

sowie

„If anyone of you is becoming a hipster, I gonna slap you.“
(„Wenn einer von euch zum Hipster wird, baller ich euch eine.“)

Ich bin begeistert.

Königsberger Klopse.

 

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Auf dem Rückweg von der U-Bahn gibt es ein Café mit einem unglaublich kitschigen Namen und täglich zwei Gerichten. Es rühmt sich vegetarisch wie vegan, und als ich heute dort Königsberger Klopse esse, hält eine junge Frau mit Kind auf ihrem Fahrrad vor Bekannten am Nebentisch.

Sie habe eigentlich gar keine Zeit, sie müsse in den Second-Hand-Laden nebenan, um für ihren Sohn eine Regenjacke zu kaufen, sagt die Dame mit dem Pagenschnitt.
Regenjacken seien bestimmt gerade schwierig zu kriegen, ergänzt die bessere Hälfte des Pärchens am Nebentisch bei Sonnenschein und 25 Grad.
Ohja, sagt die junge Mutter mit dem toilettengroßen Brillenrahmen. Außerdem fahre sie übers Wochenende in die alte Heimat, sie habe ja gerade ihren Bachelor fertig gemacht — es fehlen nur noch ein paar Prüfungen, das müsse gefeiert werden. Noch dazu habe ihr Freund beinahe seine Approbation als Psychotherapeut in der Tasche, und ihr Sohn werde bald ein Jahr alt.

Irgendwie mag ich diese Stadt, denke ich. Wenn alle gebrauchte Regenjacken kaufen würden, wäre die Welt ein besserer Ort. Egal bei welchem Wetter.

Bücher und Geschichte.

 

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Englische Stadtführung in Berlin. Wir stehen auf dem Bebelplatz, an der juristischen Fakultät der Humboldt-Uni, und lassen uns etwas über die Geschichte zum Bücherverbrennungs-Denkmal erklären.

Ein kolumbianischer Kommilitone fragt mich: „Are you German?“ — „Yes.“ — „Is it true what he tells us?“ („Bist du deutsch?“ — „Ja.“ — „Stimmt es, was der uns erzählt?“)

Für ihn hört sich das ganze irgendwie nach Schauermärchen an. Das Heine-Zitat am Denkmal saftet noch zusätzlich: „Das war ein Vorspiel nur, dort | wo man Bücher verbrennt, | verbrennt man am Ende auch Menschen.“

wpid-wp-1409769160587.jpegWenig später bin ich in der Staatsbibliothek zu Berlin, genannt Stabi, um einen Bibliotheksausweis zu beantragen. Das Gebäude ist monumental, von außen wie von innen, ein Gemisch aus kaltem Stein und rotem Teppich. Die Schritte hallen. Fenster sehe ich nicht. Ein Jahr Ausweis für die Stabi kostet 30 Euro. Wer hinein will, der muss durch eine elektronische Schranke.

„Die Regeln dienen dem Buch, und das Buch dient dem Benutzer.“ Das schreibe nicht ich, das schreibt die taz.

Mädchenzimmer.

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In meinem Zimmer befinden sich sechs Orchideen.

Nein, pardon, sieben. Ich habe die in der Ecke der Fensterbank übersehen.

Achnein, acht. Acht Orchideen. Sofern man die beiden im Regal in der Glasvase mit den weißen Deko-Holzspänen nicht doppelt zählt. Dann wären es neun. Neun Orchideen und ein Bonsai.

Meine Zwischenvermieterin hinterließ mir in einem Brief auf dem Schreibtisch: „Wie gesagt, mein Zimmer ist sehr weiblich — aber ich denke, es lässt sich aushalten!“ Ich denke auch. Es ist ein prima Zimmer.

Heute habe ich durch Zufall entdeckt, dass der Brief noch eine Rückseite hat. Dort steht: „Ansonsten wäre es noch ganz lieb, wenn du meine Blümchen 1x pro Woche gießen könntest.“

Ich wässere gleich mal die Orchideen. Und danach schlafe ich in meinem Himmelbett ein, auf dessen Baldachin die Birnchen einer Lichterkette funkeln wie 1000 Sterne.

Es hipt.

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Das kitscht ein bisschen viel, pflege ich zu sagen, wenn der Kitsch Überhand nimmt. Allerdings kitscht es hier nicht. Es hipt.

Es hipt wie bekloppt.

Mützen bei 20 Grad, Brillengestelle aus der guten alten Zeit und alles sonstige, was das urbane Modeherz begehrt. Gemeinsam sind sie mit mir heute Nachmittag auf dem Tempelhofer Feld, einem Flughafen außer Betrieb. (Hier bitte beliebigen Witz über die Kombination Berlin und Flughäfen außer Betrieb einsetzen.)

wpid-img_20140902_054931.jpgSelbstredend bin nicht ich so fortschrittlich-rückwärtsgewandt gekleidet, sondern diverse meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen. Wenn sie nicht akkurat Hemd tragen. Oder Kapuzenpulli. Oder auch ansonsten aussehen, wie ganz normale Studierende. Nix mit etepetete bisher.

Stattdessen sitzen wir gemeinsam auf der Wiese, trinken Bier, essen Pizza und unterhalten uns über Gott und die Welt. So richtig geht die Uni erst nächste Woche los.

Heute hat mich der erste Deutsche für einen Ami gehalten. Alle Amis halten mich für einen Deutschen. Und Johan, der Däne, vermutete mich als Landsmann. Irgendwie sind das alles Komplimente.

Großherzig sein.

Großherzig sein.

In meinem Viertel, das hier Kiez heißt, hat jede Wand das Potenzial zum Kunstwerk.

Ich bin kein Freund von Vandalismus. Wenn es sich jedoch um solche Sätze handelt, die verewigt werden, schmilzt mein Herz dahin.
Dieser steht in unserem Treppenhaus im zweiten Stock. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass hier eine Form von Großherzigkeit praktiziert wird, die ich mir als elitärer Privat-Uni- und ehemaliger Bonner-Südstadt-Schnösel erst noch erarbeiten muss.

Ich bin begeistert und neugierig und strahle beim Einkaufen wie ein Honigkuchenpferd, weil ich hoffe, dass man mir als Vorboten der Gentrifizierung dann nur mit großen Skrupeln den Hals umdreht. Außerdem duze ich wild in der Gegend rum. Bis jetzt läuft das ganz gut. Die Leute sind alle so freundlich.

MPP Class of 2016.

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Ich würde mich nicht als besonders fotogen bezeichnen, aber heute ist ein Foto von mir entstanden, auf dem ich so dermaßen geleckt aussehe — mein Gott, seh ich darauf geleckt aus! Dieses geleckte Foto hat ein Fotograf an meinem ersten Tag in der Uni geschossen, wo alle Englisch reden, die Studenten einen eigenen Dachgarten haben, außerdem einen Schlüssel zur Tiefgarage, eine Deutsche-Bank-Filiale im Gebäude und jede Menge anderen Schnickschnack.

Das Foto-Shooting bot meine Uni für alle neuen Studierenden an, direkt hinter dem Buffet neben dem Raum zur Einschreibung. Ich trug dabei allerdings nur ein Hemd und kein Sakko, was mich im hinteren Kleidungsmittelfeld platziert hat. Das macht aber nichts. Ich sah trotzdem geleckt aus.

Ich würde diesen Einstellungsgrund in Bildform ja gern hier veröffentlichen — leider jedoch bekommen wir das Foto erst in den kommenden Tagen ausgehändigt. Genau wie den Schlüssel zu unserem privaten Schließfach in der Uni.

Nach Bekanntschaften aus Bangladesch, den USA, London und Mexiko habe ich den ersten Kommilitonen aus Grevenbroich getroffen. Das beruhigt mich irgendwie.