Wannseekolleg.

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Ich bin eine Woche auf einem Seminar zum Thema „Europa solidarisch denken“. Tagungsort: Der Wannsee.

Mein australischer Kommilitone Laurence fragt, was ich dort mache. Ich sage, ich träfe mich auf einer Konferenz am Wannsee mit anderen Stipendiaten deutscher Förderwerke, um die Zukunft Europas zu diskutieren.

Er guckt mich misstrauisch an.

Ich sage, das nächste Treffen finde in Polen statt. Er sagt, er habe mich immer für einen netten Kerl gehalten. Naja.

Die Villa direkt am See-Ufer, in der wir tagen, macht tatsächlich einiges her. Eine Woche lang rechne ich jeden Moment damit, dass Heiner Lauterbach in einer Wehrmachts-Uniform um die Ecke biegt. Doch offenbar hat Guido Knopp diese Kulisse noch nicht entdeckt.

Hipster-Heimat.

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Auf dem Schwelmer Heimatfest schieben sich einmal jährlich provinzielle Bierbäuche in Massen an Fressbuden entlang, trinken Bier, gucken 14-Jährigen auf ihre Hintern und nennen das Tradition.

In Berlin schieben sich mehrmals wöchentlich Zottel, wallende Kleider, Schnäuzer und Karohemden in Massen an Fressbuden entlang, trinken Weißwein und nennen das Streetfood Market.

Dort bekommt man keine Bratwürste oder Knofi-Champignons, sondern Buchweizen-Risotto, spicy brownies on mixed fruits, Phat Thai und mac’n’cheese. Sonderangebot: Halbe Portion für den doppelten Preis.

Ich betrachte neugierig eine junge Frau mit beeindruckendem Lidschatten, die einen Rollkoffer über das alte Industriegelände schiebt, als mich ein Mann mit kreativer Haarpracht von unten anpöbelt: „Ey, das ist meiner. Du Penner!“

Wie sich herausstellt, bin ich ihm mit meiner Schuhgröße 46 auf ein paar seiner barfüßigen Zehen getreten. Daraufhin entfert er sich humpelnd in eine der Lagerhallen.

Ich löffele weiter friedlich meinen Klecks Kartoffelsalat für 3 Euro, der hier country potato salad heißt.

Sternburg Export.

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Gemeinsam mit mir leben sehr viele Menschen in Berlin.

Da totaler Individualismus auf Dauer anstrengend sein kann, begnügen sich die meisten damit, mittels Accessoires ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur herauszustellen.

Touristen etwa sind in der Regel gewöhnungsbedürftig gekleidet, tragen Spiegelreflexkameras um den Hals und fahren U-Bahn zu Tageszeiten, die sich kein erwerbstätiger Mensch erlauben kann.

Auf Hipster trifft das im Grunde ebenfalls zu, allerdings tragen sie seltener Funktionsjacken oder Trekking-Schuhe, sondern haben zum Einkleiden eher in der Campingabteilung von Globetrotter nach Zeltplanen gestöbert.

Schließlich gibt es noch die Echten. Die Wahren. Die nicht darüber reden, wenn sie einen Scheißtag hatten. Die einstecken und austeilen. Die Akku-Schrauber verachten und stattdessen mit dem Schlagbohrer Schrauben ins Holz treiben. Oder mit ihrem Daumennagel.

Mit dem machen sie auch auf dem Nachhauseweg ihr Sternburg Export auf.

Norwegische Fischer pflegen mit Neutrogena Handcreme nach einem harten Arbeitstag ihre geschundenen Daumen. Sternburg Export pflegt die Seele. Und ist praktisch kostenlos.

(Mir ist bewusst, dass es sich bei der abgebildeten Flasche um Berliner Kindl handelt. Für ganz besondere Tage.)

Hupen und Brüllen.

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Es ist Abend, ich möchte zum Hauptbahnhof, und ich nehme den Bus.

Grade bin ich eingestiegen, als vor uns in der Spur ein Taxi hält. Unser Busfahrer könnte nun nach links einschlagen und daran vorbeifahren. Doch er hat anscheinend bessere Ideen. Eine davon hat mit dem exzessiven Gebrauch der Hupe zu tun, eine andere mit Brüllen in einer mir unbekannten Sprache.

Zwanzig Sekunden lang widmet er sich begeistert dieser Kombination.

Dann besinnt er sich und unterbricht kurz Hupen und Brüllen, um den Bus zu verlassen und nach vorn zum Taxi zu gehen.

Dort brüllt er dann direkt durch die geöffnete Beifahrertür in den Innenraum des Fahrzeugs und ersetzt seine Hupe durch rhytmische Faustschläge aufs Wagendach.

Ich verstehe zwar immer noch kein Wort, allerdings johlen zwei junge Männer hinter mir begeistert „Gib ihm, Alter!“.

Einige Augenblicke später fährt das Taxi weiter und der Busfahrer bringt mich zum Hauptbahnhof. Die Fahrgäste klatschen. Ich mag Berlin.

Luftwaffenuniform.

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Es ist nicht mehr ganz früh und ich bin nicht mehr ganz nüchtern, und wir gehen in diesen Schuppen, in dem sie heute Techno spielen, und in dessen Mitte eine senkrechte Metallstange montiert ist, an der sich spärlich bekleidete Damen rauf und runter schrauben.

Ich denke, dass die hier gar nicht so modellmaßemäßig aussehen, wie ich mir das immer vorgestellt habe.

Dann versinkt mein Kopf im Chaos.

Bin ich ein Sexist, weil ich davon ausgehe, nur Frauen ohne Bauch tanzten an Stangen? Darf jemand, der sich „Studierende“ statt „Studenten“ antrainiert hat, überhaupt in so einen Club gehen? Wieso sind so viele Männer ohne Haare hier? Oh Gott, und ich hab auch schon Geheimratsecken mit 25. Ich bin doch noch so jung. Ist das was Genetisches? Will man sich ab einem gewissen Alter halbnackte Frauen an Stangen angucken? Oder ist das auch was Genetisches? Junge, verhalt dich einfach ganz normal. Wie geht das hier? Hingucken ist komisch. Nicht hingucken ist irgendwie auch komisch. Vielleicht ist das nur so eine Amateur-Stangentanz-Sportgruppe. Nein, ich möchte keinen Jägermeister trinken. Warum trägt der Typ neben mir eine Luftwaffenuniform? Nein, ich möchte wirklich keinen Jägermeister trinken.

Eine meine Begleiterinnen sagt, dass die da an der Stange ja aber auch einen ganz schönen Bauch hat.

Na toll.

Optimierte Verkehrsplanung.

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Wer in Bonn von A nach B möchte, nimmt sein Fahrrad oder geht zu Fuß.

Wer in Berlin von A nach B möchte, stellt fest, dass hier A und B nicht direkt nebeneinander liegen. Im Berliner Alphabet liegen A und B in der Regel an unterschiedlichen Enden.
B befindet sich hier mit etwas Glück in der Nähe von Z — meist jedoch noch hinter sämtlichen Umlauten und Sonderzeichen.

Daher vertraue ich in Berlin nicht meinem Fahrrad, sondern meinem Smartphone, das mir dank famoser App immer die schnellste Verbindung im öffentlichen Nahverkehr liefert.

Das habe ich auch in Bonn bereits genutzt und konnte so an guten Tagen im 10-Minuten-Takt von A zu entfernteren Bonner Buchstaben gelangen. Alles entspannt.

Nun ist Berlin ein Schlaraffenland des öffentlichen Nahverkehrs, sodass mein Handy mir hier Verbindungen in der Regel in Minutenabständen präsentiert.
Da die U- und S-Bahnen allerdings nicht auf die Sekunde genau fahren, verändert sich die optimale Verbindung auf meinem Weg von Buchstabe zu Buchstabe praktisch ständig. Drama: Was mir der Algorithmus soeben noch als schnellste Route präsentiert hat, kann an der nächsten Haltestelle schon wieder eine Verzögerung von 1 Minute verursachen. Ich verstehe inzwischen, warum die ganzen Leute in der Bahn pausenlos auf ihre Smartphone-Bildschirme starren. Es geht um optimierte Verkehrsplanung.

Ich bin noch nie so unentspannt gereist. Aber es dient ja alles dem höheren Ziel: Effizienz, Effizienz, Effizienz.

Musik.

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Mittwochabend sind viele erste Male.

Ich bin zum ersten Mal in Berlin auf einem Konzert, nämlich für 10 Euro auf dem der kanadischen Band The Burning Hell.

Ich sehe zum ersten Mal Kai Diekmann, den Chefredakteur der Bildzeitung. Er steht während des Konzerts 10 cm vor mir und sieht genau so aus wie auf Fotos: dunkle Fussel-Haare, langer Rauschebart, Kapuzenpulli.
Allerdings ist er deutlich größer als in meiner Vorstellung, so ungefähr 1,95, sodass ich insgesamt nicht viel vom Konzert sehe. Aber ich sage nix. Mit dem Bild-Chef will man es sich ja nicht gleich verscherzen.

Ich bin zum ersten Mal auf dem Gelände des legendären Techno-Clubs Berghain. Dort findet in einem Seitentrakt das Konzert statt. Anne und Line, meine beiden Begleiterinnen, und ich sind uns einig: Wir müssen auch irgendwann mal rein in diese sexualisierte Musik-Vorhölle.
Uns so richtig gehen lassen, von Samstagabend bis Montagmittag.
Raum uns Zeit vergessen, wild Drogen einwerfen, das Jetzt genießen, uns über das Morgen keine Sorgen machen.
Aber erstmal müssen wir die Pflichttexte für die kommenden Uni-Veranstaltungen lesen. Dann sehen wir weiter. Der Eskalations-Termin wird gedoodlet.

Schließlich sehe ich zum ersten Mal einen rauchenden Sopransaxophonisten. Also einen Saxophonisten, der gleichzeitig spielt und raucht. Er ist vollkommen betrunken, spielt wie ein vollkommen betrunkener, rauchender Saxophonist (großartig.) und sieht ganz genau so aus wie Peter Lustig, wenn der wirklich sein Leben lang in einem Bauwagen gewohnt hätte.

An einem solchen Abend passt einfach alles.

I am T — Count on me.

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Beim Ordnen meiner Unterlagen bin ich auf Reste meines Praktikums bei der Telekom gestoßen. Neben den fünf Leitlinien des Konzerns befinden sich darunter auch die Best-of-Telefonkonferenz-Phrasen. Ich denke, dies ist ein angemessener Rahmen, sie zu würdigen:

– Wir sind hier konsequent und gemeinsam unterwegs.

– Das ist die Theorie der großen Zahl.

– … konstruktiv die Themen auf die Straße kriegen …

– Lasst uns hart die Karten legen!

– … wo der Hase begraben ist …

– Mehr Gas auf die Schiene!

Hunger.

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Jetzt hört der Spaß aber auf.

Heute ist der erste Tag, an dem ich eine echte Uni-Veranstaltung habe. Eine Statistik-Vorlesung.

Ich war bis heute der Überzeugung, ich sei ein sehr fleißiger Kommilitone, weil ich am Wochenende bereits 95 Seiten für die beiden Veranstaltungen morgen gelesen habe. (Wohlgemerkt die ersten ihrer Art im Semester. Und 95 Seiten sind lediglich die Pflichtlektüre.)

Dieser fleißigen Überzeugung war ich zu Unrecht. Heute Morgen stellt sich heraus, dass wir für Statistik rund 130 Seiten lesen müssen. Ich verbringe also einige Zeit in der Bibliothek.

Darüber hinaus setzt unser Wirtschafts-Prof für morgen eine Vorbereitung in Höhe von 64 Seiten voraus.

Um 18.30 Uhr verlasse ich die Uni. Gegessen habe ich ein Schoko-Croissant und einen Kaffee. Wozu hab ich denn bitte Jura geschmissen?

Wolkenkratzer im Wedding.

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Das ist Zuhause.

Wenn ich bei Dunkelheit aus der U-Bahn-Station komme, leuchtet mir Kral Discount entgegen. Tagsüber lächeln mir dort auf dem Bürgersteig die Opas an der Gemüsewaage zu. Nachts nicht.

Nachts mustern mich dafür die Damen und Herren in der Cocktailbar nebenan. Viele von ihnen sind auch tagsüber da, sehen allerdings bei Dunkelheit nicht ganz so derangiert aus.

Zwischen der Cocktailbar und meiner Haustür schießlich liegt das Café Brooklyn. Es hat täglich 23 Stunden geöffnet, sagt sein Werbeschild. Zu welcher Stunde es schließt, habe ich noch nicht herausgefunden.

Es scheint sich um ein Café für Architekten und Stadtplaner zu handeln. Die arbeiten bekanntlich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Außerdem ist auf das Schaufenster ein Wolkenkratzerpanorama geklebt.