Heimat.

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Als ich noch in Bonn wohnte, bestanden die Touristenströme aus Asiaten und älteren Ehepaaren auf der Suche nach der guten alten Zeit. In Berlin sieht das anders aus.

Irgendwie kommen alle nach Berlin — die total Uncoolen zu Besuch; die relativ Uncoolen zum Studium; die einigermaßen Coolen kommen, obwohl sie angeblich gar nicht wollen und überhaupt nichts von diesem ganzen Berlin-Hype halten, aber die Arbeit es nun leider von ihnen verlangt; und die verdammt Coolen sind hier aufgewachsen.

Aus dieser Hierarchie ergibt sich auch die Hack-Ordnung dieser Stadt.

Glücklicherweise verstehen es auch die uncoolen Zugezogenen, sich in Guerilla-Bewegungen zu organisieren und ihrer Heimat treu zu bleiben. So wie beim Treffen der Freunde des Münsterlandes. Hinter verschlossenen Türen, versteht sich.

Das Schild entdecke ich beim Kaffeetrinken. Ich frage Caro, ob sie sich nicht daneben stellen möchte.

Sie möchte nicht. Uncool halt…

PS: Wie Rebecca zu Recht hervorhebt, hat der münsterländer Verein einen illustren Vorstand.

Kulturschock.

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Sonntagabend, 17 Uhr, in Berlin.Im Augustinerbräu.

Drei Helle und eine Weißweinschorle; drei Herrn und eine Dame; zwei aus Deutschland, dazu einer aus Bayern und eine aus Baden-Württemberg.

Lukas und ich lernen von Lisa und Matthias Schafkopf. Lisa und Matthias haben zu diesem Zweck zuallererst ihr Hochdeutsch an der Türe abgegeben und verfallen in südlichen Dialekt und Satzbau. Außerdem gibt es nun Ober und Unter, Eichel und Gras, und seltsamerweise sind hier keine Schafe, dafür aber diverse Säue im Spiel.

Lukas kommt aus Hannover und hat bisher, wie ich, Doppelkopf gespielt. Gemeinsam sind wir moderat verwirrt.

Dann kommt es zwischen Lisa und Matthias zum Streit über die weltliche Auslegung göttlicher Schafkopfregeln. Süddeutsche Schimpfwörter fliegen.

Lukas schaut mich an: „An Doppelkopf mag ich die soziale Komponente“, sagt er. „Da spielt man meistens im Team.“

Digitale Kommunikation.

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Wochenendseminar an meiner Uni. Zwei Herren, die als Medien- und Online-Profis angepriesen werden, sollen uns Fähigkeiten im Thema Digital Communication vermitteln.

Wie Daniel, der das hier mit mir durchsteht, bemerkt: „Die kreieren hier nichts aus nichts. Nichts mit Fotos.“ Dann fällt mehrfach das Sch-Wort, und wir sitzen Samstag und Sonntag von 9 bis 17 Uhr in einem Seminarraum, während draußen die Sonne scheint.

Neue Dinge lerne ich begrenzt. Denn das Seminar ist unglaublich „interaktiv“, meint: Wir machen all das, wovon wir keine Ahnung haben, einfach mal selbst, und bekommen hinterher erzählt, was alles im Ansatz richtig war.

„Die verdienen Geld damit, oder?“, fragt Daniel.

Dunkelheit.

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Heute ist netzpolitischer Abend in der c-base. C-base, das ist laut Wikipedia ein „Dreh- und Angelpunkt der Berliner Hackerszene“. Laut meinem ersten Eindruck ist es ein ziemlich großer Hobbykeller samt Bar und Netzaktivisten im positiven Sinn des Worts.

Ich höre spannende Vortäge, trinke ein Radler und suche die Toilette.

Im Gewölbe herrscht insgesamt ein gemütliches Schummerlicht, und ich bahne mir meinen Weg durch einen dunklen Gang zu den noch dunkleren Klos. Zu den sehr dunklen Klos.

So dunkel, dass ich zunächst vergeblich nach dem Lichtschalter taste, und dann mit meinem Handy den Weg zu den Urinalen leuchte. Zu meiner Überraschung erfasst mein Lichtkegel dort eine pinkelnde Gestalt.

„Oh. Gehört die Dunkelheit zum Konzept?“, frage ich.
„Ja, die gehört zum Konzept“, sagt der düstere Pinkler.

Ich lösche mein Handy-Licht, woraufhin er seine Hose schließt, mehrfach im Dunkeln auf den Bewegungssensor drückt, den er für einen Spülknopf hält, und dann schnurstracks den Raum verlässt.

Wenn alle Toiletten im Dunkeln lägen, wären Männerklos ein halb so ekliger Ort.
Meine Hände wasche ich trotzdem.

Konsum.

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Dies ist die Postkartensammlung der Mitbewohnerin von Julia — und eine Kampfansage an das Dilemma der Bewohner Berlins.

Denn eines ist in dieser Stadt allgegenwärtig: Die Auswahl.

Am Ticket-Schalter, in der Café-Szene und im Supermarkt: Überall wird man erschlagen von der Menge verschiedener Angebote. Da ist es kein Wunder, dass in Berlin die Kunst offenbar nicht darin besteht, von allem ein bisschen zu machen, sondern das eigene liebe bisschen zu finden, um aus dieser Nische so viel wie möglich mitzunehmen.

Mein Kommilitone Alex hat bereits längere Berlin-Erfahrung, ist Kapitalismus-Kritiker und hat farbenfrohe Pullover (zu Recht) als seine Nische entdeckt. Gemeinsam gehen wir am Ende eines Uni-Tags zu REWE gegenüber, wo alle Äpfel geleckt aussehen und sich die Kühlschranktüren automatisch öffnen, wenn man die Hand ausstreckt.

Alex geht zum Kühlregal und wählt aus, wiegt nachdenklich den Ziegenkäse hin und her. Dann schreitet er an den quietschbunten Regalreihen von Lebensmitteln vorbei und murmelt: „Alles, was ich jetzt noch kaufe, ist Konsum.“

Der Einkauf endet vor dem Bier-Regal. Einige Minuten lassen wir uns ergriffen von der Auswahl erschlagen. Dann konsumiert Alex ein Zwick’l. Feierabend.

Ingolf Lück.

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Es wird Zeit, und ich gehe zum Frisör.

Der Salon Lubenow lockt mit eloquenter Außenwerbung und violetter Innenausstattung. Frisiert werde ich dort von einem Herrn, der exakt so aussieht wie Ingolf Lück mit 75.

Mein Kopf denkt abwechselnd „Ingolf Lück! Ingolf Lück! Ingolf Lück!“ und „Guck nicht so auffällig hin! Lass dir nichts anmerken! Ganz entspannt jetzt!“
Ich beginne zu schwitzen.

Dann fragt mich Ingolf Lück, pardon: mein Frisör, ob er die Vorderpartie zum Stylen länger lassen soll. So ein Quatsch, denke ich, dann sehe ich noch aus wie Ingo Appelt, dieser andere Komiker mit dem Haarlappen auf der Stirn.

Den Gag verwerte ich dankbar, und antworte dem Mann mit der Schere: „Nein danke, machen Sie’s ruhig etwas kürzer, ich möchte doch nicht aussehen wie Ingolf Lück.“

Es dauert einen Moment, bis mir dämmert, dass ich gerade im denkbar ungünstigsten Zeitpunkt zwei deutsche Comedians durcheinandergeworfen habe. Nach einer kurzen Gesprächspause sagt mein Frisör, das Ingolf-Lück-Rentnerdouble, sehr langsam: „Nein, da haben Sie Recht. Das will man nicht.“

Das Gespräch ist vorbei. Ich gebe später 30 Prozent Trinkgeld.

Vanessa.

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Eine Fahrt von Berlin nach Wuppertal kostet im ICE 100 Euro und bedeutet (mindestens) vier Stunden Lesen und Arbeiten. Im Bus kostet es weniger, dauert aber deutlich länger und bedeutet Hölle für jemanden von 1,93 Metern.

Glücklicherweise gibt es Vanessa.

Vanessa fährt am Freitag von Berlin nach Wuppertal, hat in ihrem Auto insgesamt drei freie Plätze und lädt auf mitfahrgelegenheit.de für 30 Euro zur „gemütlichen Reise“ ein — schneller als jeder Fernbus. Ich freue mich und warte um 14.30h am verabredeten Treffpunkt.

Um 15.40h kommt Vanessa dann in einem grauen VW-Bus in Berlin an, frisch aus Wuppertal. Neun Personen steigen aus. Acht Mitfahrer und Vanessa, die in Wirklichkeit Josef heißt und mitte vierzig ist.

Ich sage Josef, was er mache sei Beschiss und illegal. Josef sagt, ich dürfe mich nicht bei ihm beschweren, er fahre die Tour heute nur für einen Freund. (Höhö.) Dann kauft er sich eine Dose Red Bull, steigt wieder hinter das Steuer und fährt zurück nach Wuppertal. Die Spur hält Josef per Gehör, indem er stets mit dem Reifen auf den Spurbegrenzungen fährt.

Auf die Frage, ob er öfter solche Touren mache, sagt Josef, er fahre sehr gern Auto. Wie schön, wenn man sein Hobby zum Beruf macht.

Ironie der Geschichte.

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Mit einigen internationalen Studierenden besuche ich den jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee.

Es ist ein verwunschener Ort, in dem sich die Natur die einzelnen Gräber zurückholt, sie überwuchert und in sich aufnimmt. Es ist, zumindest für mein Empfinden, ein friedlicher, ein wirklich schöner Ort.

Als Deutscher in internationaler Gesellschaft auf einem jüdischen Friedhof bin ich in erster Linie allerdings eines: betroffen.

Eine deutsche Kommilitonin drückt es folgendermaßen aus: „German Students talk a lot about the Holocaust because were too polite not to.“ („Wir deutschen Studierenden reden häufig über den Holocaust, weil wir zu höflich sind, um es nicht zu tun.“)

Und da es gefühlt komisch klingt, als Deutscher zu sagen, ein jüdischer Friedhof sei ein sehr schöner Ort, sage ich lieber gar nichts und gucke ernst.

Bis ich auf den Grabstein von Dr. Hammerschlag treffe. Da lache ich laut, und fühle mich pietätlos.

Mit warm.

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Gegenüber meiner Haustür hängt über einem Garagentor dieses Schild, das ich bisher für einen Werbegag gehalten habe. Oder die klischeehafte Tarnung zwielichtiger Geschäfte.

Neben demselben Garagentor befindet sich außerdem eine Taste, auf der „Bitte klingeln“ steht. Es ist 2 Uhr an einem Samstagmorgen, als ich zum ersten Mal dieser Bitte nachkomme.

Das Garagentor öffnet sich einen Spalt, und ein junger Mann guckt heraus, der irgendwie zu freundlich aussieht, um in der Garage Drogen zu kochen.

Mist, denke ich. Ich kenne das Codewort ja gar nicht. Hmmm… „Fladenbrot?“

Er lächelt. „Eins?“ Er dreht sich um und verschwindet in der Garage. Dann ruft er: „Mit warm?“

Aha, das Codewort…, denke ich. „Ja, mit warm!“

Kurze Zeit später kommt er zurück, verlangt einen Euro und drückt mir ein frisch gebackenes Fladenbrot in die Hand. Dann sagt er „Schlaf gut!“ und schließt das Garagentor.

Mir wird ganz mit warm ums Herz.

Philosophische Gespräche.

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Während der Seminarwoche am Wannsee haben wir regelmäßig abendliche Gastredner, unter anderem Ariadne von Schirach, laut Programmheft und Wikipedia eine Autorin und Philosophin.

Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nach ihrem sehr anspruchsvollen bis unerreichbar-geistigen Vortrag auf dem Landhaus-Balkon mit uns Studierenden die Kante gibt.

Erst erzählt sie von ihrer Katze, die nach der Muse von Rainer Maria Rilke benannt ist. Ich schwelge in Unwissen.

Dann erwähnt sie, dass sie mit Zweitnamen Melusine heiße. Ich lache laut, leider weiß außer mir niemand, warum. Dabei passt es geradezu fabelhaft.

Sämtliche Erklärungsversuche scheitern. Alle halten mich für einen Idioten. Das ist mir egal. Morgen erinnert sich sowieso keiner mehr an diesen Abend.

Bier für 1,20 Euro.